Der lange, grüne Weg der EU – Teil 4: Fit for 55

Auch wenn der Titel an ein Fitnessprogramm zu erinnern scheint, handelt es sich bei Fit for 55 um das neue, von der Europäischen Kommission verabschiedete Paket, mit dem die Netto-Treibhausgasemissionen bis 2030 um 55% gegenüber dem Stand von 1990 reduziert werden sollen.
Das im Juli 2021 von der Europäischen Kommission vorgestellte „Fit for 55“-Paket besteht aus einer Reihe miteinander verbundener Vorschläge, die alle auf das gleiche Ziel ausgerichtet sind: einen fairen, wettbewerbsfähigen und grünen Übergang bis 2030 und darüber hinaus zu gewährleisten. Um die Ziele für 2030 und die Klimaneutralität für 2050 zu erreichen, ist eine Anpassung der EU-Verordnungen zur Klimapolitik erforderlich. Das Fit for 55 Paket ist damit das vorerst letzte Paket aus einer Reihe von Umweltschutzvorschriften, das bereits 2018 mit dem Clean Energy Package seinen Ursprung hatte.
Was bedeutet Fit for 55?
Unmittelbarer Hintergrund dieses Pakets ist der europäische Green Deal, dessen Hauptziel es ist, bis 2050 der erste klimaneutrale Kontinent zu sein. Darauf setzt das Fit for 55 Paket nun auf.
Das Europäische Klimagesetz, das die Ziele des Green Deal verbindlich festlegt und das im Juli 2021 in Kraft getreten ist, verankert die Verpflichtung der EU zur Klimaneutralität und das Zwischenziel, die Netto-Treibhausgasemissionen bis 2030 um mindestens 55% gegenüber 1990 zu reduzieren. Um den im Europäischen Klimagesetz vorgeschlagenen Weg zu beschreiten und dieses ehrgeizige Ziel für 2030 zu erreichen, hat die Kommission die geltenden Klima- und Energievorschriften überprüft, von denen erwartet wird, dass sie die Treibhausgasemissionen bis 2030 nur um 40% und bis 2050 um 60% reduzieren würden. Dies führte im Ergebnis zur Implementierung des Fit for 55 Pakets.
Es setzt sich – ebenso wie die anderen Regulierungspakete – aus einer Vielzahl von Vorschriften zusammen. Mit den Vorschlägen werden acht bestehende Rechtsvorschriften aus verschiedenen Wirtschaftssektoren gestärkt: Klima, Energie und Kraftstoffe, Verkehr, Gebäude, Landnutzung und Forstwirtschaft. Der gewählte Policy-Mix ist eine sorgfältige Abwägung zwischen Preisgestaltung, Zielen, Standards und Unterstützungsmaßnahmen.
Für das EU-Emissionshandelssystem (Emission Trading System = ETS), das einen Preis für Kohlenstoff festlegt, schlägt die Kommission vor, die Gesamtobergrenze für Emissionen zu senken und die jährliche Reduktionsrate zu erhöhen. Um den Mangel an Emissionsreduktionen im Straßenverkehr und in Gebäuden zu beheben, wird ein separates neues Emissionshandelssystem für die Kraftstoffverteilung im Straßenverkehr und in Gebäuden eingerichtet.
Neben einem Kohlenstoffpreissignal werden unter anderem klare Zielvorgaben dazu beitragen, den Wandel voranzutreiben, wie in der überarbeiteten Verordnung zur Lastenteilung (Effort Sharing Regulation = ESR), die die Mitgliedstaaten in die Lage versetzen soll, nationale Maßnahmen zur Bekämpfung der Emissionen in den Bereichen Gebäude, Verkehr, Landwirtschaft, Abfall und Kleinindustrie zu ergreifen. Der Vorschlag soll dazu führen, dass die Emissionen aus diesen Sektoren bis 2030 EU-weit um 40% gegenüber der Situation im Jahr 2005 reduziert werden.
Um Kohlenstoff aus der Atmosphäre zu entfernen, soll die Verordnung über Landnutzung, Forst- und Landwirtschaft (EU Forestry Strategy) dieses Ziel bis 2030 erreichen. Der neue Vorschlag zielt darauf ab, den derzeitigen Trend der abnehmenden CO2-Entfernung umzukehren und die Qualität und Quantität der Wälder und anderer natürlicher Kohlenstoffsenken in der EU zu erhöhen. Um die biologische Vielfalt und die Nachhaltigkeit zu erhalten, sollen bis 2030 drei Milliarden Bäume in Europa gepflanzt werden.
Um den Übergang zu einem umweltfreundlicheren Energiesystem zu beschleunigen, wird in der Richtlinie über erneuerbare Energien (Renewable Eneregy Directive II = RED II) )das Ziel festgelegt, bis 2030 40% der Energie aus erneuerbaren Quellen zu erzeugen. Einige der vorgeschlagenen Schlüsselbereiche für die Nutzung erneuerbarer Energien sind Verkehr, Heizung und Kühlung, Gebäude und Industrie.
Um den Energieverbrauch zu senken, die Emissionen zu reduzieren und die Energiearmut zu bekämpfen, wird die Energieeffizienz-Richtlinie (Energy Efficiency Directive) verbindliche jährliche Ziele vorgeben. Der öffentliche Sektor wird verpflichtet, jährlich 3% seiner Gebäude zu renovieren, um die Renovierungswelle voranzutreiben, Arbeitsplätze zu schaffen und den Energieverbrauch zu senken.
Die Kommission schlägt außerdem im Rahmen des Fit for 55-Pakets vor, die Einführung nachhaltiger Kraftstoffe im Luft- und Seeverkehrssektor zu fördern und damit das Emissionshandelssystem zu ergänzen, das umweltschädliche Kraftstoffe für die Anbieter teurer macht. So wird ReFuel Aviation zur Förderung nachhaltiger Flugkraftstoffe vorgestellt und wird die Kraftstofflieferanten dazu verpflichten, einen immer höheren Anteil nachhaltiger Flugkraftstoffe in das bestehende, auf EU-Flughäfen geladene Kerosin zu mischen sowie Anreize für die Einführung synthetischer Kraftstoffe, so genannter E-Fuels, zu schaffen.
Zur Förderung nachhaltiger Kraftstoffe für den Seeverkehr sieht der Vorschlag für FuelEU Maritime neue Anforderungen für Schiffe vor, die EU-Häfen anlaufen oder verlassen, unabhängig von ihrer Flagge, indem ein Höchstwert für den Treibhausgasgehalt der von ihnen verbrauchten Energie festgelegt wird und diese Grenzwerte im Laufe der Zeit verschärft werden.
Ein weiterer Schritt innerhalb des Pakets, um die Besteuerung von Energieerzeugnissen mit der Energie- und Klimapolitik der EU in Einklang zu bringen, ist eine Überarbeitung der Richtlinie zur Energiebesteuerung (Energy Taxation Directive), in der vorgeschlagen wird, saubere Technologien zu fördern und überholte Ausnahmen und ermäßigte Steuersätze, die derzeit die Verwendung fossiler Brennstoffe fördern, abzuschaffen.
Angesichts der Gefahr der Verlagerung von CO2-Emissionen wird im Rahmen von Fit for 55 ein Mechanismus zur Anpassung der Grenzübergangsstellen für CO2-Emissionen (Carbon Border Adjustment Mechanism – CBAM) vorgeschlagen, der die Einfuhr einer begrenzten Anzahl von Waren mit hohem Schadstoffausstoß auf der Grundlage ihres Kohlenstoffgehalts mit einem Preis belegt. Die CBAM soll schrittweise für einige ausgewählte Produkte eingeführt werden. Sie soll auch die Industrie außerhalb der EU und unsere internationalen Partner dazu ermutigen, Schritte in die gleiche Richtung zu unternehmen.
Die Auswirkungen des Krieges in Europa und wie es weitergeht
Bevor das Fit for 55-Programm ein Jahr nach seiner Ankündigung in Kraft tritt, ist in Europa das am wenigsten Erwartete geschehen: ein neuer Krieg. Der Einmarsch Russlands in die Ukraine und seine Folgen haben die Abhängigkeit Europas von russischem Gas deutlich gemacht. In dieser kritischen geopolitischen Phase kündigte die Europäische Kommission daher am 8. März REPowerEU an, um die Gasversorgung zu diversifizieren, den Ausbau der erneuerbaren Energien zu beschleunigen, die Energieeffizienz zu verbessern und Gas beim Heizen zu ersetzen. All dies kann in der Tat zu einer Verringerung der Nachfrage nach russischem Gas führen.
Die Energiekrise steht in direktem Zusammenhang mit dem europäischen Green Deal und dem Prozess zur Erreichung des Ziels, der erste klimaneutrale Kontinent zu sein. Die Bedenken veranlassen die Kommission dazu, weitere Maßnahmen zu ergreifen, um die Abhängigkeit von externen Gaslieferungen zu beenden. Die Produktion von grüner Energie wird dabei einer der Eckpfeiler sein. Die EU-Kommission fordert das EU-Parlament und den Rat auf, die Fit for 55-Vorschläge mit früheren Zielen für erneuerbare Energien und Energieeffizienz zu verstärken, um die Treibhausgasemissionen der EU bis zum Ende des Jahrzehnts um 55 % zu reduzieren.
Darüber hinaus legte die Internationale Energieagentur am 3. März einen 10-Punkte-Aktionsplan vor, um die Abhängigkeit von russischen Gaslieferungen innerhalb eines Jahres um mehr als ein Drittel zu verringern. Dieser Vorschlag steht im Einklang mit dem Fit for 55-Paket und dem Green Deal.
Schlussfolgerung
Zum jetzigen Zeitpunkt lässt sich feststellen, dass das Fit for 55-Paket ein wichtiges Legislativpaket ist, um die Netto-Treibhausgasemissionen um mindestens 55 % zu senken und die Klimaziele für die nächsten Jahrzehnte zu erreichen. Die Legislativvorschläge werden vom Europäischen Parlament und vom Rat geprüft. Die EU legt diesen Fahrplan zu einer Zeit fest, in der die Mitgliedstaaten drastische Überlegungen anstellen, Unabhängigkeit vom russischen Gas zu erlangen und um eine ausreichende Produktion und Versorgung der EU mit erneuerbaren Energien sicherstellen zu können. Dennoch wird es diplomatischer Anstrengungen bedürfen, um die neuen Maßnahmen tatsächlich in Zukunft umzusetzen. Ein Selbstläufer wird das Fit for 55 Paket nicht werden.
Autorin: Giselle Martinez Sanchez ist in Paraguay zugelassene Rechtsanwältin und Senior Legal Analyst bei LEX AI GmbH. Dr. Susann Funke ist CEO und Legal Officer der LEX AI GmbH. LEX AI ist ein deutsches LegalTech-Startup (www.lexai.co) mit Sitz in Hamburg, das innovatives juristisches Design, maschinelles Lernen und künstliche Intelligenz einsetzt, um die Art und Weise, wie Juristen mit komplexen internationalen und nationalen Vorschriften und Gesetzen umgehen, radikal zu verbessern. Ziel von LEX AI ist es, die Kosten und den Aufwand für juristische Recherchen und Wissensaufbau um bis zu 75% zu reduzieren.